Meine Beiz – 2. Teil

Es ist fast wie nach Hause kommen, wenn ich im Treppenhaus der Münstergasse 20 dem roten Handlauf folge, um im ersten Stock die Türe zum Restaurant Schlauch zu Öffnen, dem wohl einzigen Lokal ohne Namensschild, das mittags und abends voll ist. Ich staune aufs Neue und empfinde Dankbarkeit, dass sich hier in den letzten fünfundzwanzig Jahren kaum etwas verändert hat: Die schlichten Holzmöbel sind dieselben, die Bar wirkt wie die Kulisse eines alten Schweizer Films, und das antike Radio in der Ecke betrachtet die lebendige Szenerie von oben. Etwa die beiden Herren, die jeden Abend um viertel vor sechs
Uhr für das Nachtessen dasitzen, oder die neunzigjährige Dame, die mit dem Taxi vom Zürichberg jeden Mittag anfährt und am Tisch Nummer 3 mit der NZZ in der Hand anzutreffen ist. Auch das vierköpfige Mittags-Stammgrüppli oder die jungen Leute, die abends inmitten essender Gäste jassen dürfen. Und nicht zu vergessen: die billardspielenden Herren. Ja, der «Schlauch» ist ein Mikrokosmos, über den sich ein Dokumentarfilm drehen liesse.

Gabriela Weingand, die das Lokal zusammen mit ihrem Mann Rolf seit 1989 führt, sagt am Telefon, ihre Mutter sei jetzt neunzig Jahre alt und habe über vierzig Jahre hier gekocht: «Sie ist da und erzählt gerne.»

Tags darauf finde ich mich um zehn Uhr morgens im Restaurant Schlauch ein. In der Küche wird bereits gearbeitet. Eine zierliche alte Frau kommt auf mich zu. Ihre Augen, deren braune Pupillen von einem feinen blauen Kreis umschlossen sind, strahlen etwas Warmes aus. Das muss sie sein, die Josefine Schnepf. Wir setzen uns an einen der Tische neben dem Billard-Abteil. Die langjährige Köchin und Mitbesitzerin des Hauses hat den Kaufvertrag der Liegenschaft aus dem Jahre 1925 mitgebracht und etliche Fotos aus den vierziger- und fünfziger Jahren, auf denen der Raum, in dem wir uns befinden, zu sehen ist. Für Josefine Schnepf war er während fast siebzig Jahren Lebensmittelpunkt, Arbeitsort und Zuhause zugleich. Dass
sie ursprünglich aus Österreich stammt, lässt sich bis heute nicht überhören, obwohl sie viele schweizerdeutsche Wendungen übernommen hat. Gebannt lausche ich ihrer Erzählung.

Zwischen zwei Weltkriegen wird Josefine Witzmann 1926 in Graz geboren. Die Mutter kann das uneheliche Kind nicht bei sich behalten und gibt es einer Witwe in Obhut, die einen älteren Sohn hat. Maria Schröttner kümmert sich um das Mädchen, als wäre es ihr eigenes. «Ich hab sie geliebt, meine Ziehmutter», erzählt Josefine Schnepf: «Sie hat alles für mich gemacht und mir gut geschaut. Und sie hat mir auch immer das gekocht, was ich gerne hatte, zum Beispiel Krautstrudel.» Doch dann kommt alles anders:

Ihre leibliche Mutter heiratet und will das mittlerweile zwölfjährige Mädchen wieder bei sich haben. Fini, wie Josefine genannt wird, muss sich von der Mama trennen und ins vierzig Kilometer entfernte Kapfenberg fahren. «Wir haben beide geweint, die Mama und ich. Bevor ich fuhr, gab sie mir ein wenig Geld. Sie sagte: «Da hast echli Geld, wenn’s gar nicht geht, kommst zurück.) Ich habe das  Geld dann nicht gebraucht, aber es hat mir geholfen.» Fini weint jeden Abend bei ihrer neuen Mutter und dem Stief
vater, den sie Papa nennen muss. In Kapfenberg erfährt sie, dass sie eine zwei Jahre ältere Schwester hat, die beim Vater aufgewachsen ist.

Der Zweite Weltkrieg bricht aus, Finis Kindheit ist vorbei. Sie muss viel arbeiten und nach Ende der Schulzeit das 1938 von Hitler eingeführte «Pflichtjahr» absolvieren, das sie auf ihre spätere Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereiten und den Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft verringern soll. Sie könnte als «Nachrichtenhelferin» nach Jugoslawien, aber sie zieht es vor, in einer Metzgerei zu arbeiten, in einem «kriegswichtigen

Buch bestellen